Meine beste Freundin
„Du hast heute schon wieder nichts gegessen.“
Der Morgen war sonnig und klar und der Wind strich Meike durch ihre dünnen, blonden Haare. Sie lächelte sanft auf meine Feststellung und winkte mit ihrer Hand ab, als hätte ich etwas fürchterlich Dummes gesagt.
„Steffi, bitte. Das sagst du fast jedes Mal. So langsam musst du dir etwas Neues überlegen.“
Sie zwinkerte mir verschwörerisch zu und ich blickte verlegen zur Seite. Natürlich hatte sie recht. Doch seit Wochen sah ich zu, wie sie immer mehr abnahm. Meike hatte eine gute Figur. Das war nicht immer so gewesen. Noch vor einem Jahr hatte sie starkes Übergewicht gehabt und gerade als sie begonnen hatte, wie ein aufgequollener Pfannkuchen auszusehen, hatte sie schlagartig abgenommen. Nun sah sie aus, wie eines dieser Topmodels aus dem Fernsehen: Blond, etwas blass, dürr und dennoch wohl proportioniert, sodass die Männer einfach nicht anders konnten, als sich nach ihr umzudrehen. Ich bewunderte sie sehr, denn wenn sie lächelte, strahlte sie heller als die Sonne selbst und ihre dunkelbraunen Augen verbreiten eine Wärme, die selbst das größte Feuer nicht verbreiten konnte. In ihrer Nähe fühlten sich die Leute geborgen. Sie beschwerte sich nie und verbreitete immer gute Laune. Etwas, das ich nicht konnte.
„Du weißt doch, dass ich vor drei Tagen noch die Grippe hatte. Es geht jetzt endlich bergauf, da möchte ich meinem Magen noch nicht zu viel zumuten.“
Ich nickte nachdenklich. Das stimmte. Womöglich machte ich mir zu viele Gedanken. Meike hatte alles im Griff. Wie könnte sie sonst so strahlen. Immerhin wusste sie nicht die ganze Wahrheit. Denn wenn sie diese wüsste, dann würde ihre Welt aus allen Ankern fallen, aber nicht so. Und ich würde unsere heile Welt so belassen wie sie war.
„Lass uns über etwas anderes quatschen. Wir sind doch hier, um uns zu amüsieren, oder etwa nicht?“
Sie ergriff aufmunternd meine Hand und entlockte mir, wie aus Zauberhand, ein Lächeln. Ihre rehbraunen Augen wurden noch ein Stück größer, als sie ohnehin schon waren.
„Wow, deine Haare sind echt gewachsen. Wirklich schön.“
Mit diesem Satz brach sie meine Trübseligkeit endgültig entzwei. Ich ließ mich von ihrer guten Laune mitreißen und genoss unser Treffen in vollen Zügen, sodass ich gar nicht merkte, wie schnell die Zeit verstrich. Alles war so gut wie immer und so würde es auch bleiben. Davon war ich fest überzeugt. Zumindest wollte ich es glauben.
Ein paar Wochen später traf ich mich mit Meike zum Kaffeetrinken in der Stadt. Ich war zu früh und nutzte die Zeit, um uns einen guten Platz in dem überfüllten Straßencafé zu sichern. Ich warf noch einen kurzen Blick auf meinen Handspiegel, um mein Make-up zu überprüfen, und strich mir meine schulterlangen, braunen Haare glatt. Pünktlich auf die Minute betrat Meike das überschaubare Café. Sie trug ein Kleid aus blassblauen Leinen, das zu groß für sie war und sie gänzlich zu verschlingen drohte. Mit einem breiten Lächeln setzte sie sich mir gegenüber und strahlte mich an. Etwas war anders. Das merkte ich sofort. Doch vermochte ich nicht zu sagen, was genau es war. Sie lächelte so offen und beherzt wie sie es ständig zu tun pflegte, auch die Wärme stellte sich sofort ein, jedoch wirkte sie müde und ausgezerrt.
„Hi, Meike. Wie geht es dir? Du siehst müde aus“, begrüßte ich sie vorsichtig und sie schenkte mir ein erneutes Lächeln und fuhr sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Bildete ich mir das ein oder zitterten ihre Finger dabei?
„Oh, merkt man das so deutlich? Das tut mir leid. Ja, ich habe nicht besonders gut geschlafen. Dafür werde ich heute Nacht bestimmt umso besser schlafen. Du weißt ja, wie das ist.“
Ich nickte. Ihre Antwort klang plausibel. Allerdings entging mir nicht, dass sie schon wieder abgenommen hatte. Dazu brauchte sie nichts Figurbetontes anzuziehen. Ich sah es an ihrem Gesicht, das mir mit einem Mal viel kantiger vorkam als zuvor. Ihre Haut war blass und erinnerte mich an Eis und Schnee. Weiß, schmelzend und zerbrechlich. Trotz allem sah sie immer noch überdurchschnittlich gut aus, wie eine zarte Elfe.
„Doof so etwas. Das kenne ich. Was hältst du davon, wenn wir ein Stück Kuchen zu unserem Kaffee bestellen? Die haben vorne eine so große und verführerische Auswahl, dass mir schon beim Vorbeigehen das Wasser im Mund zusammengelaufen ist. Ich habe richtig Lust auf etwas Süßes. Wie sieht es mit dir aus? Du magst doch Schokoladentorte so gerne.“
„Ah, ja … Nimm es mir nicht übel, aber momentan steht mir der Sinn so ganz und gar nicht nach Kuchen. Ein andermal, versprochen. Du kannst natürlich gerne. Ich verzichte.“
Überrascht zog ich eine Augenbraue nach oben. Kein Schokoladenkuchen? Früher wäre sie dafür zu jeder Schandtat bereit gewesen.
„Nein, wenn du nicht magst, dann möchte ich auch nicht“, gab ich ihr etwas trotzig zur Antwort und mein Blick fiel wieder auf ihre labile Figur, die unter dem blassblauen Leinenmeer gänzlich verschwand. Es konnte wohl nicht schaden, wenn auch ich etwas mehr auf meine Figur achten würde.
„Wie sieht es an der Männerfront aus? Etwas Neues in Sicht?“
Ihre Augen sprühten vor kindlicher Neugier, als sie mir diese Frage stellte und ich zuckte leicht zusammen. Meine Kehle wurde mit einem Mal trocken und ich schüttelte schnell meinen braunen Schopf. Sie seufzte theatralisch auf.
„Steffi, ich versteh das einfach nicht. Du siehst so toll aus. Wie habe ich dich immer für deine hellblauen Augen beneidet. Ich verstehe die Männer nicht, aber ich bin mir sicher, dass du den Richtigen noch finden wirst. Ganz sicher.“
Sie strahlte mich aus voller Überzeugung an und ich zweifelte nicht daran, dass sie es nicht ernst meinen könnte. Ein unsichtbarer Stich durchfuhr meinen Körper und ich lachte verlegen auf. Ein falsches, gespieltes Lachen, welches niemanden dazu verleiten würde, sich davon anstecken zu lassen oder sich darin gar geborgen zu fühlen. Ich schluckte und wollte nicht antworten, doch die Gegenfrage kletterte mit aller Gewalt meine Kehle hinauf und zwang sich mühelos aus meinem Mund, ohne dass ich etwas dagegen tun konnte. Nur meine Hände verkrampften sich auf meinem Schoss ineinander und bezeugten den verlorenen und stillen Kampf.
„Und bei dir? Wie läuft es mit deinem Freund?“
Meike zögerte keine Sekunde mit der Antwort und ihre Worte strotzten nur so vor Liebe und Hingabe.
„Es läuft gut. Ich kann nicht glauben, dass Sven und ich schon so viele Jahre zusammen sind. Na ja, ich meine, wir haben uns noch kein einziges Mal wirklich gestritten. Es ist alles so harmonisch. Okay, ein paar kleine Diskussionspunkte gibt es natürlich immer, aber ich denke, das ist völlig in Ordnung …“
Sie schwärmte unablässig weiter, doch ich konnte und wollte ihr nicht mehr folgen. Mein Verstand weigerte sich, noch mehr von ihrer Liebesbekundung und heilen Welt zu hören. Die Welt war nicht perfekt – war sie nie gewesen und würde sie nie sein. Ich bewunderte ihren Optimismus oder war es ihre Naivität? Wünschte ich mir nicht selbst, so blind durch das Leben spazieren zu können? Mehrmals hatte ich das schon versucht, doch vergebens. Optimismus war nicht meine Stärke.
Sie zeigte mir stolz ein neues Silberarmband, welches ihr Sven geschenkt hatte und erklärte mir, wie viel Halt er ihr doch gab und dass es für mich auch so eine Person, sie nannte es „Seelenverwandten“, geben müsste. Glaubte sie tatsächlich selbst daran? Bestimmt tat sie das. Ein erneuter Blick auf sie genügte, um dies zu bestätigen.
Ich biss mir unbemerkt auf meine Unterlippe. Lächerlich. Absolut lächerlich, wo doch gerade Sven Schuld daran hatte, dass sie immer weiter abnahm. Das musste sie doch einsehen. Der geschenkte Schmuck konnte seine schwere Schuld nicht aufwiegen. Bestimmt ahnte sie etwas, tief in ihrem Inneren. Doch ich machte ihr keine Vorwürfe, dass sie an ihre heile Welt mit aller Kraft festhielt. Er war der Böse, nicht sie. Sven betrog sie wissentlich und sah dabei zu, wie seine Freundin mehr und mehr weniger wurde und zu zerfallen drohte. Wieso machte er nicht endlich mit ihr Schluss, so wie er es mir versprochen hatte, als wir die letzte Nacht zusammen verbracht hatten? Das war alles seine Schuld. Nicht meine. Ich war nur ihre beste Freundin und konnte lediglich versuchen, sie zum Essen zu bewegen. Er war der Betrüger, der sie seelisch zerstörte. Was sollte ich denn tun? Ich hasste und liebte ihn zugleich. Mir blieb nichts anderes übrig, als das Theater noch ein wenig mitzuspielen, bis er sich von ihr trennen würde. Er musste es tun. Das hatte er mir versprochen.
So saß ich mit ihr in dem Café und half ihr dabei, ihre heile Welt der Unwissenheit aufrechtzuerhalten. Ich konnte ja nicht wissen, dass es das letzte Mal sein sollte.
Nur einen Monat später bedeckten graue Wolken den Himmel und einzelne Tropfen fielen ungnädig auf die schwarz gekleideten Gäste nieder. Schluchzen und Schniefen erfüllte die Luft, gepaart mit der Abschiedsrede der Familienangehörigen von Meike. Kälte hüllte mich in einen eisigen Mantel und durchdrang meinen zitternden Körper. Reglos stand ich da und sah zu, wie Sven eine Rose in das Grab warf. Nicht einmal Tränen liefen ihm über das Gesicht. Er war eiskalt. Ob er sich bewusst war, welche Schuld auf ihm lastete? Meine brennenden Augen zogen sich zu zwei schmalen Schlitzen zusammen und ich beobachtete jede seiner Bewegungen. Er hatte nicht mit Meike gesprochen, obwohl ich ihn vor vier Tagen wieder darum gebeten hatte. Natürlich hatte er es mir versprochen, doch getan hatte er es nicht. Und jetzt war sie tot, noch in derselben Nacht verstorben. Seinetwegen.
Irgendetwas in meinem Inneren begann zu rumoren. Ich musste Ruhe bewahren und durfte mir nichts anmerken lassen. Tränen standen mir nicht. Niemand sollte mich weinen sehen. Das hätte Meike nicht gewollt. Da bin ich mir sicher. Wenn ich sie nur öfter getroffen hätte, um sie zum Essen zu bewegen. Doch jetzt war es zu spät und immerhin war ich nicht schuld. Der Schuldige stand seelenruhig am Grab und starrte mit ausdrucksloser Miene auf den Sarg herab. Meine Blicke durchbohrten ihn förmlich, doch er schien es nicht zu bemerken. Ich wollte, dass er wusste, dass er ihren Tod zu verantworten hatte. Er allein. Vielleicht ahnte er es schon, denn er hatte mich kein einziges Mal mehr angerufen, seit Meike gestorben war.
‚Oder aber, er gibt dir auch Schuld an ihrem Tod‘, meldete sich eine innere, piepsige Stimme in mir und ließ mich heftig zusammenfahren.
„Ich bin nicht schuld. Ich habe nichts Unrechtes getan!“, flüsterte ich energisch vor mich hin und ballte meine Hände zu Fäusten.
‚Wirklich nicht? Du hast auch mit Sven geschlafen – dem Freund deiner besten Freundin. ‘
Ich schüttelte abwehrend meinen Kopf und legte beruhigend eine Hand auf meinem Bauch, der auf einmal von heftigen Krämpfen durchfahren wurde. Übelkeit stieg in mir auf und ließ mich schwanken. Ich wollte diese Stimme nicht mehr hören.
‚Ich bin nicht schuld! Er war derjenige, der sie betrogen hat. Ich habe nichts Falsches getan, immerhin war ich single und habe somit nichts zu verantworten!“
Als der Boden unter meinen Füßen zu schwanken begann und die piepsige Stimme sich in ein grässliches und hysterisches Lachen verwandelte, stolperte ich langsam zum Ausgang des Friedhofes, der immer enger zu werden schien. Ich war nicht schuld! Auf keinen Fall hatte ich mir etwas vorzuwerfen. Ich war nicht diejenige gewesen, die jemanden betrogen hatte. Niemals.
Etwas in meinem Inneren schrie verzweifelt auf, das Lachen wurde immer lauter und Tränen schossen in meine Augen. Doch sie durften nicht fließen. Das ließ ich nicht zu. Dazu gab es keinen Grund. Ich hatte nichts Böses getan. Eilig verließ ich den Friedhof und der Himmel riss über mir auf und versuchte mich unter seinen Tränen zu ertränken, während ich unentwegt „nicht schuld, nicht schuld“ flüsterte. Mich trifft keine Schuld – ich habe doch nichts Verwerfliches getan … oder?