Kurzschluss
Sie kämmte sich ihre dunkelbraunen Haare und ihre Augen spielten verliebt mit ihrem Spiegelbild. Sie war hübsch. Durch und durch. Zumindest optisch, denn innerlich war sie so glitschig wie eine Schlange. Katharina betrachtete ihre Arbeitskollegin, die ihr den Rücken zutrete, und stand selbst verloren in der Ecke.
„Katharina, du bist ja auch noch hier? Ich dachte, ich wäre alleine im Büro. Wieder Überstunden gemacht?“
Sandra sprach, ohne dabei den Blick vom Spiegel zu nehmen. Sie war kleiner als Katharina, dennoch war sie ihr überlegen. Denn ausnahmslos alle waren ihr verfallen.
„Ja, es kam noch ein dringender Auftrag rein. Und was ist mit dir? Auch noch fleißig?“
Katharina versuchte locker zu klingen, doch ihre Finger umklammerten verkrampft die Schere, die sie mit auf die Toilette genommen hatte, um den lästigen Zettel aus ihrer Bluse heraus zu schneiden.
„Ja, das kann man wohl sagen. Es war nicht einfach, mich wieder in meine alte Arbeit rein zu finden. Einmal hat man fast nichts zu tun und dann kommt alles auf einmal. Aber das kennst du ja.“
Katharina nickte flüchtig. Natürlich wusste sie, wie es ablief. Immerhin hatte sie die Stelle gehabt, die man ihr nun weggenommen hatte, weil Sandra zurück gekehrt war. Jetzt war Katharina nicht mehr für das Exportgeschäft zuständig, sondern nur noch für stumpfsinnige Büroaufgaben. Sie hasste ihre neue Arbeit.
„Ach, du möchtest bestimmt an das Waschbecken. Warte noch einen Moment, ich bin gleich fertig. Das macht dir doch nichts aus, oder?“
„Natürlich nicht.“
Katharinas Hände fingen an zu zittern. Ihr Hals kratzte.
„Du hast noch was vor?“, fragte sie eilig Sandra, über deren Gesicht bei der Frage ein bittersüßes Lächeln huschte.
„Ja, das habe ich. Ich werde gleich abgeholt. Stell dir vor: ich habe einen neuen Freund. Oh …“
Sandra stockte kurz und blickte ihre Kollegin im Spiegel an.
„Wie läuft es in deinem Liebesleben?“
Katharina schluckte, dann antwortete sie kühl: „Thomas hat sich von mir vor einer Woche getrennt.“
Sandra begann nun wieder, ihre Haare zu bürsten.
„Ja, ich weiß. Mach dir nichts draus. Männer kommen und sie gehen. So ist das nun mal.“
„Wahrscheinlich hast du recht. Doch woher …“
„Schön, dass du es auch so siehst. Dann macht es dir bestimmt nichts aus, dass ich mich heute mit Thomas treffe.“
Vor Katharina wurde es schwarz. Sandra traf sich mit ihrem Exfreund? War das ihr Ernst? Erst hatte sie ihr die befreundeten Kollegen genommen, dann ihre Stelle und nun ihren Freund? Sandra redete weiter, doch ihre Worte erreichten Katharina nicht mehr. Dunkler Nebel umhüllte sie und ließ sie schweben. Wie in Trance hob sie die Schere und stach wutentbrannt auf ihre Widersacherin ein.
Ihre Kolleginnen mussten etwas ahnen, denn sie benahmen sich anders. Das konnte nicht nur am Schock und an der Trauer liegen. Katharina war sich sicher, dass sie die anderen ganz seltsam musterten und hinter ihrem Rücken tuschelten. Doch sie konnten es nicht wissen. Niemand hatte sie vorgestern gesehen, als sie das Büro verlassen hatte. Sandra und sie waren die einzigen gewesen, die noch gearbeitet hatten. Der Verdacht musste zwangsläufig auf Thomas fallen. So hoffte sie zumindest. Trotzdem machte sie der hartnäckige Kommissar nervös, der hier ständig herumschwirrte und Fragen stellte. Sie brauchte einen Plan und zwar schnell.
Vorsorglich trennte Katharina die Pralinen voneinander. Morgen würde sie diese im Büro verteilen. Keiner würde sie verdächtigen können. Immerhin würden fast alle von den Pralinen kosten und sie konnten ja nicht wissen, dass die Hälfte von ihnen vergiftet war.
Die Türklingel riss sie aus ihren Gedanken und ließ sie aufschrecken. Zögernd stellte Katharina die Schachtel mit den Pralinen auf den abgenutzten Wohnzimmertisch, öffnete die Tür und schluckte, als sie den Kommissar erkannte.
„Guten Tag, Frau Banner. Ich hätte noch ein paar Fragen. Darf ich reinkommen?“
Wortlos lies sie ihn herein und führte ihn in ihr Wohnzimmer. Seine wachsamen Augen sahen sich prüfend um und die Nervosität saß ihr hartnäckig im Magen.
„Wie kann ich Ihnen helfen?“
Sie faltete ihre Hände auf ihrem Schoß und hoffte, diese damit ruhig halten zu können.
„Ihre Kolleginnen haben mir noch ein paar Dinge erzählt, die neue Fragen aufgeworfen haben.“
„Nun denn, was habe ich damit zu tun?“
Der Ermittler lehnte sich entspannt in das Sofa zurück und starrte sie unentwegt mit seinem messerscharfen Blick an.
„Sie hatten letzte Woche ausgesagt, dass Sie nichts mit Frau Panzen zu tun hatten. Ist es nicht so?“
„Ja, das stimmt. Sie war eine Kollegin, die mich damals eingelernt hatte, damit sie die Abteilung wechseln konnte. Dann hab ich sie nur noch ab und an in der Mittagspause in großer Runde gesehen.“
„Okay, aber dass Sie Ihre Position unfreiwillig wieder abgeben mussten, haben Sie mir nicht erzählt.“
Katharina krallte ihre Hände ineinander und begann zu schwitzen.
„Ja, das stimmt. Ich erachtete es als nebensächlich.“
„Nebensächlich? Gewiss nicht. Wie mussten Sie sich damals fühlen, als Sie vom Urlaub zurück kamen und erfahren haben, dass sie mit sofortiger Wirkung versetzt werden?“
Der Kommissar schob seine runde Brille zurecht und nagelte sie mit seinen Augen fest, während er sich begierig über seine schmalen Lippen leckte.
„Es … es war schlimm für mich. Doch ich habe mich an meine neue Position gewöhnt.“
„Sicher. Sie haben sich daran gewöhnt, doch mögen, tun Sie sie nicht, oder?“
„Nein. Natürlich nicht. Deswegen verdächtigen Sie mich? Wegen der Arbeit würde ich nie jemanden umbringen!“
„Nicht wegen der Arbeit, aber vielleicht, weil sie Ihnen Ihren Freund weggenommen hat?“
Katharinas Herz setzte für einen Moment aus und sie spürte die Farbe aus ihrem Gesicht weichen.
„Woher … woher wissen Sie das?“
Es war mehr ein Flüstern, doch der Kommissar verstand sie.
„Anscheinend hatte Frau Panzen kein Geheimnis daraus gemacht, dass sie sich Ihren Freund geangelt hat. Und Sie? Sie wussten davon? Wie lange schon? Nicht lange, oder?“
Sie biss sich nervös auf ihre trockene Unterlippe. Ihre Kehle war wie zugeschnürt und sie brachte keinen Ton heraus.
„Fällt es Ihnen schwer, zu sprechen? Keine Sorge, ich helfe Ihnen dabei. Kann es sein, dass Sie, kurz vor dem Heimweg, im Büro noch auf die Toilette gegangen und dort auf Frau Panzen getroffen sind, die Ihnen von ihrem neuesten Fang erzählt hat?“
Katharina nickte schwach. Einzelne Tränen kullerten aus ihren Augen. Der Mut verließ sie.
„Dann nahmen Sie einen spitzen Gegenstand und ich vermute, es handelte sich hierbei um Ihre Schere, denn Ihr Schreibtisch war der einzige, auf dem eine Schere fehlte, und erstachen in blinder Wut Ihre Kollegin, um sich an ihr zu rächen.“
„Kurzschluss.“
„Wie bitte?“
„Es war eine Kurzschlussreaktion. Ich wollte nicht … ich hätte nie … es hat einfach Klick gemacht.“
Katharina wurde speiübel und sie spürte, wie ihr Kreislauf drohte, zu versagen. Sie brauchte Zucker. Gedankenverloren griff sie nach einer Praline und schob sie in den Mund. Ein seltsam bitterer Geschmack durchströmte sie und erst als sie schluckte, wurde ihr bewusst, dass sie die falsche Seite der Pralinenschachtel gewählt hatte. Ein trauriges Lächeln kreuzte zum letzten Mal ihre Lippen. Wenigstens das Gefängnis würde ihr somit erspart bleiben.