Die Bestie (Version 2)
Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Bestie hier auftauchen würde, um ihr nächtliches Unwesen zu treiben. Doch dieses Mal würde er sie aufhalten. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und wandte den Blick ab, als die roten Schlusslichter in dem Mantel der Dunkelheit verschwanden. Nun war es gleich soweit. Nur noch ein paar vorübereilende Minuten. Achtlos warf er die Kippe auf die Schienen herab und machte sich auf den Weg zum Gleisanfang, raus aus der beengenden Halle, die einem Gefängnis glich. Seine schulterlangen schwarzen Haare wehten seicht im Wind und umspielten sein schmales, blasses Gesicht. Ein langer Mantel verbarg seine dürre Statur, schützend wie ein Eisenschild. Suchend durchbrachen seine stechend schwarzen Augen die Dunkelheit, während er sich seinem Ziel näherte. Er wurde gemieden von der Gesellschaft, doch das war ihm nicht wichtig – nicht mehr, denn nun würde sich alles ändern. Die Turmuhr in der Nähe des kleinen Bahnhofs schlug Mitternacht. Der Mann blieb stehen, hob seine spitze Nase in die Luft und lauschte. Stille. Hatte er sich in der Zeit oder im Ort geirrt? Missmutig drehte er sich um, als ein Unheil verkündendes Grollen die Luft durchschnitt und der unverkennbare Geruch von Verwesung die Luft gewaltvoll schwängerte. Ein gefälliges Grinsen huschte über sein Gesicht und er drehte sich langsam um, als das bedrohliche Grollen direkt hinter ihm ertönte. Blutrünstige Augen trafen die seine und der Körper des zotteligen, hundeartigen Dämons bebte vor hungrigem Verlangen. Weißer Schaum umzog seine große Schnauze und ein tiefes Knurren entrann seiner Kehle. Gelassen schlug der Mann seinen Mantel beiseite und entblößte seine geweihte, japanische Klinge mit der er schon viele Bestien erlegt hatte. Hier handelte es sich um ein besonderes Prachtstück und er wollte ihn unbedingt besiegen. Kampflustig zog er sie mit einer ruhigen Bewegung hervor und wartete darauf, dass das Monster endlich seinem Drang nachgab und angriff. Die Zeit schien eingefroren, während beide Gegner in ihrer Bewegung verharrten, beide den ersten Schritt des anderen erwartend. Anspannung lag in der Luft, hauchdünn nur, um im nächsten Augenblick zerrissen zu werden. Der beißende Gestank des Todes umhüllte beide, wie Erde den ihr geschenkten Sarg. Der Angstschrei eines Vogels zerfetzte das Band der gespenstischen Stille. Mit einem ohrenbetäubenden Aufjaulen stürzte das Ungeheuer dem Mann entgegen, um seinen unstillbaren Hunger zu besänftigen. Mit zusammengekniffenen Augen duckte sich der Dreißigjährige und erhob seine Klinge, doch er war nicht schnell genug. Ein lautes Scheppern hallte über das kahle Gelände, als das japanische Schwert klirrend zu Boden fiel und weg von den beiden kämpfenden Körpern schlitterte, die zu einer Masse verschmolzen. Mit allen Kräften, die er aufbringen konnte, wehrte sich der Mann standhaft, die schwere Bestie von sich zu drücken. Schmerz durchflutete seinen Körper, als das Biest seine rasiermesserscharfen Zähne in das Fleisch seines rechten Armes bohrte und sein roter Lebenssaft auf sein Gesicht tropfte und seine Sicht zu verschwimmen drohte. Er musste sich schnell aus der misslichen Lage befreien, sonst wäre sein Schicksal unaufhaltsam besiegelt. Der Mann ließ seine linke Hand blitzschnell in seine Manteltasche gleiten, wodurch er nicht mehr ganz so viel Kraft und Stütze für die Abwehr des Untiers hatte. Das Monster witterte seine Chance und verlagerte sein Körpergewicht auf den Rücken liegenden Torso des Mannes, sodass dieser hart nach Luft japste. Leichte Panik stieg in ihm auf, als seine Hand nicht das fand, was sie suchte. Sein rechter Arm rutschte ab und die blutigen Zähne der sabbernden Bestie kamen gefährlich nahe an sein Gesicht. Der faulige Mundgeruch vernebelte ihm die Sinne. Er spürte, wie die scharfen Schneidezähne seine Wangen und Stirn streiften, als seine Finger den ersehnten Ritualsdolch endlich ergriffen. Die Luft weigerte sich noch weiterhin seine Lungen zu füllen und seine Augen überzog ein undurchdringlicher schwarzer Schleier, als er mit letzter Kraft den Dolch in den Dämon rammte und die Worte „Et vos eritis mihi sacrificet mihi“ mit verstickender Stimme flüsterte. Dann war alles um ihn herum still.
Ermattet packte der Mann seine Waffen ein und band sich sein durch den Kampf wirr gewordenes Haar zusammen. Jeder einzelner Körperteil in ihm schrie vor Schmerz und ihm war immer noch schwindelig. Dennoch war er sehr zufrieden. Außer der eingetrockneten Blutlache waren keine Spuren des Kampfes am Bahnhof mehr zu erkennen. Ein Blick auf die Uhr verriet ihm, dass er noch etwas Zeit hatte, bevor die ersten Passagiere hier wieder erscheinen würden. Müde ließ er sich auf den dreckverkrusteten Boden nieder und zündete sich eine Zigarette an. Der Nekromant hatte nun auch die letzte Bestie zusammen, die er benötigte, um ein alles vernichtendes Dämonenheer zu beschwören. Er war von der Gesellschaft gehasst und gemieden, doch nicht mehr lange. Alle sollten seine Rache zu spüren bekommen. Im Osten bahnte sich die Sonne ihren Weg in den Himmel und tauchte die Landschaft in ein verheißungsvolles, blutiges Rot.