Die Bestie und der Engel (Version 1)

 

Fast geräuschlos glitt der letzte Nachtzug aus der Halle. Der Bahnsteig war leer, bis auf einen einzelnen Mann. Er hatte sich eine Zigarette angezündet und starrte dem Zug nach, dessen rote Schlusslichter rasch kleiner wurden. Es konnte nicht mehr lange dauern, bis die Bestie hier auftauchen würde, um ihr nächtliches Unwesen zu treiben. Doch dieses Mal würde er sie aufhalten. Er nahm einen tiefen Zug von seiner Zigarette und wandte den Blick ab, als die roten Schlusslichter in dem Mantel der Dunkelheit verschwanden. Nun war es gleich soweit. Nur noch ein paar vorübereilende Minuten. Achtlos warf er die Kippe auf die Schienen herab und machte sich auf den Weg zum Gleisanfang, raus aus der beengenden Halle, die einem Gefängnis glich. Seine schulterlangen schwarzen Haare wehten seicht im Wind und umspielten sein schmales, blasses Gesicht. Ein langer Mantel verbarg seine dürre Statur, als wollte er diese dadurch schützen. Suchend durchbrachen seine stechend schwarzen Augen die Dunkelheit, während er sich seinem Ziel näherte. Er wurde gemieden von der Gesellschaft, doch das war ihm nicht wichtig – nicht mehr, denn er hatte gelernt, damit umzugehen. Die Turmuhr in der Nähe des kleinen Bahnhofs schlug Mitternacht. Der Mann blieb stehen, hob seine spitze Nase in die Luft und lauschte. Stille. Hatte er sich in der Zeit oder im Ort geirrt? Missmutig drehte er sich um, als ein Unheil verkündendes Grollen die Luft durchschnitt und der unverkennbare Geruch von Verwesung die Luft gewaltvoll schwängerte. Ein schiefes Grinsen huschte über sein Gesicht und er drehte sich langsam um, als das bedrohliche Grollen direkt hinter ihm ertönte. Blutrünstige Augen trafen die seinen und der Körper des zotteligen, hundeartigen Dämons bebte vor hungrigem Verlangen. Weißer Schaum umzog seine große Schnauze und ein tiefes Knurren entrann seiner Kehle. So gelassen wie möglich schlug der Mann seinen Mantel beiseite und entblößte seine geweihte, japanische Klinge mit der er zuvor schon viele Bestien erlegt hatte. Hier handelte es sich um ein besonderes Exemplar und er wollte es unbedingt besiegen. Mutig zog er seine Waffe mit einer ruhigen Bewegung hervor und wartete darauf, dass das Monster endlich seinem Drang nachgab und angriff. Die Zeit schien eingefroren, während beide Gegner in ihrer Bewegung verharrten, beide den ersten Schritt des anderen erwartend. Anspannung lag in der Luft, hauchdünn nur, um im nächsten Augenblick zerrissen zu werden. Der beißende Gestank des Todes umhüllte beide, wie die Erde den ihr geschenkten Sarg. Ein Vogel stieß seinen Angstschrei aus und zerfetzte das Band der Unheil verkündenden Stille. Mit einem ohrenbetäubenden Aufjaulen stürzte das Ungeheuer dem Mann entgegen, um seinen unstillbaren Hunger zu besänftigen. Der Dreißigjährige kniff die Augen zusammen und duckte sich, erhob seine Klinge und konnte im letzten Moment ausweichen. Das Ungetüm jaulte unter Schmerzen auf, die ihm die lange, zugefügte Wunde am Bauch bereitete. Das war seine Chance und der Mann wollte diese unbedingt ergreifen. Er nahm sein Schwert in beide Hände und sprintete, bereit zum Endschlag, der Bestie entgegen. Jedoch schien der Dämon nicht einverstanden mit seinem vorzeitigen Tod. Ein tiefes Knurren entrann seiner Kehle und es sprang wütend auf seine Beine, wobei sein schwarzes Blut aus der klaffenden Wunde tropfte und den dreckverkrusteten Boden tränkte. Ein leichtes Zittern ging von seinem Körper aus und der Mann war sich seines Sieges sicher. Er wich der wuchtigen Pranke des dunkelbraunen Untieres aus und ließ sein Schwert entschlossen auf dieses niedersausen. Ein lautes Jaulen erfüllte die Luft und schien kein anderes Geräusch zu zulassen. Die roten Augen der Bestie starrten entsetzt ihren Peiniger an, als es sterbend auf den Boden sackte und seinen Leichnam im eigenen Blut badete. Der Mann atmete schwer und verharrte einen Augenblick in seiner Bewegung, bis das Monster endgültig seine Augen schloss. Die Glieder des Kämpfers entspannten sich und auf seinem Gesicht machte sich ein zufriedenes Lächeln breit. Er hatte seine Arbeit getan. Auch diese Stadt war nun sicher. Um sich selbst zu belohnen nestelte der Mann eine weitere Zigarette aus seiner Manteltasche und suchte umständlich nach seinem Feuerzeug, doch er fand es nicht. Er musste es während des Kampfes verloren haben. In diesem Moment vernahm er das drohende Klicken einer Waffe. Reflexartig drehte er sich um und starrte hinab, in das unschuldige Gesicht eines zehnjährigen Mädchens mit engelsblondem Haar.

„Bon Voyage, Christophe!“

Der Mann war vor Schreck gelähmt, als die zierlichen Finger den Abzug der Pistole drückten. Er konnte nicht einmal schreien, als sich alles in seinem Inneren zusammenzuziehen schien und die Welt um ihn herum zu drehen begann. Sein Körper verkrümmte sich und sackte kraftlos zu Boden, wo er sich spastischen Zuckungen des letzten Kampfes hingab. Mit weit aufgerissenen Augen, in denen das Entsetzen sich deutlich widerspiegelte, sah er in das Gesicht des kleinen Engels mit den blonden Haaren und den kältesten hellblauen Augen, die er je gesehen hatte. Dann schloss auch er zum letzten Mal seine Augen. Jetzt war alles still.