Der animalische Zauber

Der Zaubertrank blubbert leise vor sich hin und der Geruch von exotischen Kräutern erfüllt mein Arbeitszimmer. Ich atme tief ein und blicke gedankenverloren in die Brühe. Bald ist es soweit, dann ist mein Elixier fertig und mein Traum wird sich erfüllen. Ein wölfisches Grinsen umspielt meine Mundwinkel und ein angenehmes Prickeln durchzieht meine Haut. Ich kann es kaum erwarten! Wie viel habe ich schon versucht? Wie viel ausprobiert? Und alles erfolglos … Doch das wird sich ändern! Denn schon nach dem heutigen Tag werde ich, Richard Morlock, Fähigkeiten besitzen, von denen andere nur träumen können! Wie ich davon so überzeugt sein kann? Ganz einfach: dieser Zauber ist anders als die vorherigen! Vielversprechend! Einmalig!

Klar, ich habe so viele Pleiten hinter mir, dass ich aufgehört habe, zu zählen. Dennoch: dieses Mal ist es anders, das spüre ich einfach!

Ein plötzlicher Gestank lässt mich aus meinen triumphierenden Gedanken aufschrecken. Es riecht etwas angebrannt, fast als … Erschrocken fahre ich zu meinem Kessel herum und ein erstickter Schrei fährt aus meiner Kehle. Wie konnte mir das nur passieren? Dicke Rauchschwaden füllen mein Zimmer und lassen mich husten. Schnell hebe ich meinen Trank von dem Herd, doch es ist zu spät. Der Inhalt läuft von allen Seiten über und ich verbrenne mich. Verbittert stelle ich das Gefäß ab, renne zur Spüle und halte meine glühenden Hände unter kaltes Wasser. Tränen steigen in meine Augen und ich kann nicht sagen, ob sie aus Schmerz oder Wut fließen. Ich drehe meinen Kopf in Richtung meines ernannten Zauberzimmers und schlucke. Vielleicht hat es dieses Mal nicht funktioniert, doch schon morgen werde ich es wieder probieren!

Verärgert packe ich meine Einkäufe aus. Nicht nur, dass die Zutaten teuer sind, sie sind auch noch verdammt schwer zu bekommen. Dieses Mal muss ich aufpassen. Mir darf kein Fehler unterlaufen! Nur die geringste Unaufmerksamkeit kann zu verheerenden Folgen führen. Ich atme tief durch und richte meine Utensilien. Konzentriert fange ich an, die Kräuter abzuwiegen und mit dem Mörser zu zerkleinern. Die Fähigkeiten eines Wolfes – das bedeutet ausgezeichneter Geruchsinn, verbesserte Wahrnehmung, Schnelligkeit, Eleganz und ein Reaktionsvermögen, das unvergleichbar ist. Ich werde jedem überlegen sein! Niemand wird mich mehr schlagen oder mir etwas vormachen können. Weder beim Joggen und den Wettläufen werde ich versagen, noch auf meiner Arbeit. Keiner wird mich länger anlügen können, denn ich werde empfänglich für Nervosität sein. Ich lache leise auf. Ich werde der totale Überflieger werden und der animalische Zauber wird es möglich machen! Ein Hoch auf die Magie! Und da soll noch einmal einer sagen, dass ich mit meinen 32 Jahren nichts erreicht hätte! Erblassen werden sie vor Neid!

Vorsichtig setze ich das Wasser auf und warte, bis es kurz vor dem Kochen ist, genauso wie es in der Anleitung steht. Dann gebe ich die zermahlenen Kräuter hinzu, schließe die Augen und denke an mein Ziel, lasse all meine Energie und meine gesamte Kraft in den Wunsch fließen, während der Trank melodisch vor sich hin blubbert. Nur fünf Minutenlasse ich verstreichen, dann nehme ich die Zauberbrühe vom Herd und stelle den Kessel vorsichtig auf die steinerne Ablage. Geschafft – ich habe es fast geschafft!

Meine Haut durchzieht ein aufgeregtes Prickeln und treibt mein Herz zu Höhenflügen an. Ich bin kurz davor. Mein Traum wird endlich in Erfüllung gehen! Voller Vorfreude entnehme ich meinem Schrank einen großen Löffel und trinke einen Schluck von dem Gebräu. Überrascht reiße ich meine Augen auf, als der Schmerz mich erfüllt. Heiß – es ist viel zu heiß! Doch ich darf es jetzt nicht vermasseln. Nicht so kurz vor meinem Ziel!

Tränen laufen über meine Wangen und für einen Moment spüre ich meine Zunge vor lauter Schmerz nicht mehr. Mühevoll schlucke ich den Trank herunter und denke nochmals intensiv an meinen Wunsch. Es ist vollbracht! Ich warte einen Augenblick, breite meine Arme aus und spüre … nichts. Enttäuscht sehe ich mich um, doch die verbesserte Sehschärfe bleibt aus. Auch mein Hören hat sich nicht wirklich zum Guten verändert. Keine Kraft durchströmt mich, keine Macht. Ich, Richard Morlock, bin noch immer derselbe unscheinbare Mensch, der ich zuvor war.

Wütend beiße ich auf meine Unterlippe und balle meine Hände zu Fäusten. Schon wieder eine Pleite! Ich bin es leid! Die Welle des Zorns überrollt mich. Ich lasse mich mitreißen und trete gegen den Kessel. Scheppernd fliegt dieser zu Boden und entleert seinen Inhalt des nutzlosen Magiegebräus auf dem Boden. Wäre auch einfach zu schön gewesen!

Zwei ganze Wochen sind seit meinem letzten Versuch vergangen. Der Alltag hat mich wieder in seine monotonen Fäden eingespannt und ich habe bisweilen keinen weiteren Zauber entdeckt, der nur annähernd die Fähigkeiten verspricht, die ich mir aneignen möchte. Frustrierend. Einfach nur entmutigend auf ganzer Linie!

Ruhelos wälze ich mich im Bett hin und her. Zu viele Gedanken wirbeln durch meinen Kopf und lassen mich keinen Schlaf finden. Dabei muss ich morgen wieder ins Büro. Das kann ja lustig werden! Seufzend stehe ich auf. Mein Hals fühlt sich viel zu trocken an und kratzt unangenehm. Auf dem Weg zur Küche streift mein Blick zum Fenster: Vollmond. Vielleicht ist das der Grund meiner Schlafprobleme. Ich schnaufe verächtlich auf und strecke meine Hand nach dem Kühlschrank aus, doch inmitten meiner Bewegung verharre ich. Das kann unmöglich sein! Mein Bewusstsein muss mir einen Streich spielen! Ich blinzle schnell hintereinander, doch das Bild verschwindet nicht. Im Gegenteil: es wird nur noch schlimmer! Benommen und mit klopfendem Herzen sehe ich dabei zu, wie meine Haare auf der Haut anfangen zu sprießen wie ein Rasen. Noch bevor ich bis drei zählen kann wird meine Hand größer, verwandelt sich in eine pelzige Pranke. Ich will schreien, doch ein plötzlicher Schmerz drückt den Schrei zurück in meine Kehle und lässt ihn dort ersticken. Mein gesamter Körper krampft sich zusammen. Ich verliere den Halt und falle zu Boden, wo ich mich wilden Zuckungen hingebe. Ich verstehe nicht, was vor sich geht. Alles um mich herum scheint sich zu drehen. Ein Gewirr aus Stimmen und Geräuschen nimmt mich gefangen. Irgendetwas passiert mit mir. Gequält jaule ich auf und erkenne meine eigene Stimme nicht mehr wieder. Dann ist es auf einmal vorbei – so schnell,

wie es begonnen hat. Mein Kopf ist erfüllt von einem stetigen Rauschen und ich fühle mich trunken. Vorsichtig versuche ich mich aufzurichten. Alles um mich herum erscheint mir unerwartet groß … bin ich auch wirklich aufgestanden? Meine Pfoten fühlen sich so wackelig an wie Pudding und das Laufen fällt mir schwer. Pfoten? Verwirrt blicke ich an mir herab. Dort, wo einmal meine Beine und Füße gewesen waren, sind nun vier Läufe eines Wolfes. Das kann nicht sein, oder doch?

Verdattert und mit klopfendem Herzen tappe ich vor meinen großen Schlafzimmerspiegel und noch während ich das tue, spüre ich eine unheimlich starke Kraft in mir aufsteigen. Die Müdigkeit und die Schmerzen sind wie weggeblasen. Ich fühle mich großartig. Stark. Mächtig. Selbst der Anblick in meinem Spiegel kann mich nicht erschüttern. Von meiner ursprünglichen Form ist nichts übrig geblieben. Anstatt meines menschlichen Antlitzes sieht mir ein Wolf entgegen. Nein – kein Wolf. Ich bin größer und stärker …

Ich atme tief durch und bewundere mein Spiegelbild. Mein Fell glänzt samten im Mondlicht – wunderschön. Ein Glücksgefühl durchströmt mich. Der animalische Zauber ... die Fähigkeiten eines Wolfes – das bedeutet ausgezeichneter Geruchsinn, verbesserte Wahrnehmung, Schnelligkeit, Eleganz und ein Reaktionsvermögen, das unvergleichbar ist. Ich beginne innerlich zu lachen. Der animalische Zauber hat tatsächlich gewirkt, wenngleich auch nicht ganz so, wie ich es mir erhofft hatte. Dennoch bereue ich es nicht. Noch nie zuvor habe ich mich so glücklich und ausgeglichen gefüllt. Dennoch … es fehlt etwas. Ich wende mich dem offenen Fenster zu. Es gibt für mich kein Halten mehr. Die Welt hat

unendlich viel zu bieten! Alles erscheint mir neu und erreichbar! Es ist, als hätte ich eine zweite Chance bekommen. Vorbei ist der ätzende Alltag!

Schnell springe ich nach draußen und renne durch die Straßen. Schneller und wendiger, als ich es je zuvor gekonnt habe. Ich, Richard Morlock, ein Kind der Nacht und Werwolf, werde getragen von meinen Glücksgefühlen und laufe voller Zuversicht meiner Zukunft entgegen. Denn zum ersten Mal in meinem Leben bin ich glücklich und frei.