Das Portemonnaie

 

Mir ist speiübel. So langsam werde ich zu alt für derartige Sauftouren. Mit dreiundvierzig Jahren baut der Körper Alkohol nicht mehr beschwerdefrei ab und der Schlafmangel zieht gewaltig an meinen Knochen, fast so, als würde ein kleiner hungriger Drache daran zerren. Ächzend hieve ich meinen schweren Körper aus dem Bett und öffne meine Fenster zum Lüften. Kaum zu glauben, dass ich allein hier drin gelegen habe, denn es stinkt, als hätte eine Horde volltrunkener Wikinger bei mir übernachtet. Vorsichtig schleppe ich mich durch mein geräumiges und exklusives Einzimmerapartment und stolpere dabei über meine eigenen Füße. Zum Glück lege ich großen Wert auf Sauberkeit, sonst wäre dies ein einzig unüberwindbarer Hindernislauf. Ich werfe einen kurzen Blick in meinen Spiegel und betrachte mir die müden schwarzen Augen, die mir aus einem maskulinen und überaus attraktiven Gesicht entgegen blicken. Halbwegs zufrieden unterziehe ich mich einer Katzenwäsche und ziehe mir ein Shirt und ein paar abgenutzte Jeans über. Etwas frische Luft wird mir gut tun. Abgesehen davon, muss ich noch den lästigen Samstageinkauf hinter mich bringen. Irritiert bleibe ich stehen, als ich in meiner Jackentasche nicht das finde, was ich suche. Wo habe ich meinen Geldbeutel hin? Er muss in der Jacke sein, die ich gestern getragen habe, doch meine Finger greifen ins Leere. In mir steigt der Drang auf, durch mein Apartment zu rennen und alles überstürzt abzusuchen, doch ich kämpfe dagegen erfolgreich an.

 

„Denk nach, Sebastian. Denk gut nach“, ermahne ich mich selbst und massiere mir dabei meine Schläfe. In Gedanken gehe ich den gestrigen Abend noch einmal durch, was mir in meinem erschöpften Zustand nicht leicht fällt. Es dauert einige Minuten, bis sich vor meinem geistigen Auge die Bilder der letzten Nacht einschleichen. Meine Freunde und ich sind in einen vollen, recht schmuddeligen Tanzschuppen gegangen. Die Stimmung war gut und nach jedem Glas besser geworden. Wir haben ziemlich durcheinander getrunken und dann hatte Jürgen unbedingt eine Wette starten müssen, die wir gestern, mich eingeschlossen, ganz toll fanden. Was für eine Wette war das nochmal gewesen? Mein Kopf pocht unangenehm laut, als ich versuche mich stärker zu konzentrieren. Jedoch werden meine Bemühungen belohnt, denn Stück für Stück setzen sich einzelne Wortfetzen in meinen hämmernden Schädel zusammen und ergeben einen Sinn. Es ging um das Tanzen. In diesem Moment beginnen die Wortfetzen in Flammen aufzugehen und fluten meinen ganzen Körper mit Wärme. Die Erinnerung einer wunderschönen Frau drängt sich galant in mein benebeltes Gedächtnis und mein Herz macht einen zaghaften Sprung. Engelsgleich war sie auf mich zugekommen und ich hatte die Chance sofort ergriffen und sie auf die Tanzfläche bugsiert, wie ein König seine Königin. Alles hatte gepasst – es war einfach perfekt gewesen. Ich glaube kaum, dass ich viele Tanzschritte gestern zusammen bekommen habe, doch unsere Körper haben wunderbar auf der Tanzfläche harmoniert, so als wären wir zu einer Einheit verschmolzen. Ihre Hände waren sanft unter mein maßgeschneidertes Jackett geglitten und ich habe jede ihrer Berührungen genossen, wie ein kleiner Welpe die streichelnde Hand. Ich lasse mich kurz von den Wogen der süßen Erinnerungen tragen, als mich die Erkenntnis plötzlich wie ein kalter Schlag ins Gesicht trifft. Mein Geldbeutel war in der Innentasche meines Jacketts gewesen. Die Wärme, die meinen Körper zuvor ereilt hatte, wechselt sich nun schubartig mit einer frostigen Kälte ab. Schweißperlen bilden sich auf meiner Stirn. Mein Engel ist eine Diebin. Der traumhafte Schleier fällt mit einem lauten Schlag zu Boden und holt mich auf den schwarzen Teppich der Wirklichkeit zurück. Ich muss die Polizei anrufen und den Diebstahl melden. Am besten sofort. Für einen kurzen Moment übermannt mich die Übelkeit, sodass ich befürchte, einen Zwischenstopp über der Kloschüssel einlegen zu müssen, jedoch habe ich Glück und diese verfliegt so schnell wie sie gekommen ist. Grenzenlos enttäuscht nehme ich mein Mobiltelefon zur Hand und entferne die Tastensperre, als der schrille Ton meiner Türklingel mich aufschrecken lässt. Für einen Augenblick verharre ich auf der Stelle, unfähig, die kleinste Bewegung zu tätigen, doch ein erneutes Ringen befiehlt mich drängend zum Hauseingang.

„Ja, ja“, murre ich deprimiert vor mich hin und taumle zur Tür, die ich mit einem Ruck öffne. Mein Mund klappt schlagartig nach unten und die Farbe entweicht aus meinem Gesicht.

„Du!“, entfährt es mir überrascht und ich japse aufgeregt nach Luft. Vor mir steht mein diebischer Engel und trotz nüchternen Zustands hat sie von ihrer Schönheit nichts verloren. Im Gegenteil. Ihr Lächeln strahlt heller, als es die Sonne je könnte und mein Herz macht einen sehnsüchtigen Sprung und würde mich am liebsten in ihre Arme treiben. Allerdings bleibe ich eisern stehen. Ein Sebastian Herbeting lässt sich nicht einfach in die Arme einer diebischen Elster fallen, auch wenn diese vom Gesicht eines Engels geziert wird.

„Na, die Begrüßung hatte ich mir aber etwas anders vorgestellt“, gibt sie schmunzelnd zurück und streckt ihre Hand aus.

„Das hast du gestern verloren, denn du warst hacke dicht.“

Benommen sehe ich auf ihre ausgestreckte Hand und auf mein volles Portemonnaie. Verlegen trete ich von einem Fuß auf den anderen. Dem Alkohol werde ich vorerst entsagen …