Das Ende vom Alltag

 

Feddersen lebte ein ausgesprochen wohl geordnetes Leben. Er lebte nach der Uhr und stand jeden Morgen um die gleiche Zeit auf, kam um die gleiche Zeit in sein Büro, aß um die gleiche Zeit zu Mittag und ging um die gleiche Zeit schlafen.

An einem Donnerstag im November verließ Feddersen sein Büro pünktlich um 17.30 Uhr und nahm den Bus der Linie 60, wie jeden Tag. Üblicherweise wechselte er mit dem vertrauten Busfahrer einen Gruß und nahm selbstverständlich auf der Viererbank Platz. Feddersen sah sich ganz kurz im Bus um und atmete erleichtert aus, als er feststellte, dass die gleichen Leute wie immer im Bus saßen. Er liebte gewohnte und vertraute Situationen, denn nur diese gaben ihm Sicherheit. Sicherheit und Stabilität – das war es, worauf es im Leben ankam. Davon war Feddersen fest überzeugt. Er rückte seine Brille zurecht und kramte die Zeitung aus der Tasche. Zwar besaß Feddersen ein Auto und ebenso den Führerschein, doch beim Autofahren konnte er sich nicht gleichzeitig informiert halten.

Genüsslich strich er die ausgebreitete Zeichnung glatt und ließ seine grauen Augen prüfend über die Schlagzeilen gleiten. Voller Vorfreude leckte er sich kurz über seine gepflegten Lippen.

Der Bus passierte die erste Haltestelle und Feddersen begann zu lesen. Immer chronologisch, begonnen bei der ersten Seite.

Mysteriöses Zugunglück erschüttert die Bewohner von …

„Entschuldigen Sie, ist da noch frei?“

Erschrocken fuhr er zusammen und löste den Blick von seiner Zeitung. Vor ihm stand eine junge Blondine, deren Hornbrille fast das ganze Gesicht einnahm. Sie erinnerte ihn irgendwie an eine Schildkröte. Klein und unscheinbar.

Ohne eine Antwort abzuwarten setzte sie sich mit einem breiten Grinsen neben ihn, sodass sich ihre Arme berührten. Feddersen war wie erstarrt. Was wollte die Frau? Warum setzte sie sich ausgerechnet neben ihn? Dafür bestand überhaupt keine Notwendigkeit, denn der Bus war so halbleer wie immer. Freie Plätze gab es zur Genüge. Er spürte, wie sein Herz unangenehm laut zu Pochen anfing. Er erwachte aus seiner Starre und drückte sich gegen das Fenster, um ihre Berührung zu lösen. Schnell blickte er wieder in seine Zeitung und versuchte, sich auf den Artikel zu konzentrieren. Wenn er lesen würde, dann würden seine Nerven sich wieder beruhigen. Genau so wollte er das machen.

„Ist das ein wechselhaftes Wetter heute, nicht wahr? Richtig ungemütlich, meinen Sie nicht auch?“

Ihre helle Stimme ließ ihn zusammenfahren und aus seinen Augenwinkeln sah er, dass sie ihn unentwegt anstarrte. Was sollte das? Mit dieser ungewohnten Situation konnte er nichts anfangen. Seine Sicherheit schwankte wie eine Wackelbrücke und drohte ihm entrissen zu werden. Feddersen nickte flüchtig und las nun zum dritten Mal die erste Zeile des Zugunglücksartikels.

„Was lesen Sie da?“

Sie beugte sich zu ihm rüber, sodass ihre offenen Haare seine rasierte Wange kratzten und er ihren Atem hören konnte. Wenn das so weiter ginge, würde er unmöglich die Zeitung zu Ende lesen können, wie er es sonst tat. Dann wäre er nicht auf dem aktuellen Stand der Ereignisse auf der Welt. Seine schmale Unterlippe begann zu zittern. Warum musste sie ihn dermaßen stören

„Die Zeitung“, antwortete er knapp unter zusammengebissenen Zähnen und versuchte sie nicht weiter zu beachten.

„Ja, ja. Das weiß ich doch. Sie lesen immer Zeitung im Bus. Ich meine, welchen Artikel Sie gerade lesen. Um was geht es? Ein Zugunglück? Wo genau?“

Das durfte doch jetzt nicht wahr sein. Wer war diese Person? Bedeutete das, dass sie ihn tagtäglich beobachtet hatte? Seine kleine, sichere Welt brach mit einem Mal zusammen, seine wackelnde Brücke stürzte haltlos in die schwarze Tiefe. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und ein dicker Kloß in seinem Hals machte es ihm unmöglich zu sprechen. Er nickte leicht und merkte, wie seine Hände anfingen zu zittern. Feddersen fühlte sich wie eine kleine graue Maus in einer Mausefalle.

„Sehr gesprächig sind Sie ja nicht gerade, doch das bekommen wir schon hin, nicht wahr?“

Sie legte ihre rechte Hand auf seinen Oberarm und er spürte die Farbe aus seinem Gesicht weichen. Kälte flutete abwechselnd mit Hitze seinen Körper. Die fremde Frau störte das nicht. Stattdessen sandte sie einen sinnigen Blick in seine Augen. Alles in ihm schrie auf. Die Unsicherheit verbündete sich mit der Panik und überrollte ihn. Die Wände kamen auf ihn zu und drohten ihn zu zerquetschen. Er musste hier raus. Sofort.

Ruckartig streifte er ihre Hand von seinem Ärmel, wie eine lästige Fliege, und stürmte nach vorne, wo der haltende Bus gerade seine Türen öffnete. Mit einem Sprung war er draußen und holte tief Luft. Ein leichter Regenschauer benetzte seine Haut und ließ sie prickeln, als würde er von einem schlechten Traum erwachen.

Feddersen sah dem davon fahrenden Bus hinterher, bis die Nacht diesen verschluckt hatte. Geschafft. Er war gerettet. Doch warum kehrte dann seine Sicherheit nicht mehr zurück? Und wieso wollte das nagende Gefühl nicht mehr weichen, dass er etwas verpasste? Unbegründete Tränen bahnten sich ätzend den Weg in seine Augen und vernebelten seine Sicht, sodass er das heranbrausende Auto erst bemerkte, als es ihn erfasste. Sein Herz schlug noch einmal, zweimal, dann war es endgültig still.