Das Bacchus-Ritual

 

„Und, hast du was dabei?“

 Ungeduldig hüpfte George von einem Bein auf das andere und wartete darauf, dass Steffen seinen alten Sportbeutel öffnete und die durchsichtige Flasche Wein hervorzauberte. Es handelte sich um einen Rotwein, der verführerisch im Licht der Sonne funkelte. George fing an zu grinsen wie ein Honigkuchenpferd. Dieses Mal hatte er ein gutes Gefühl. Das würde Bacchus bestimmt munden, denn die Flasche war mit edlen Mustern verziert, die darauf schließen ließen, dass es sich hierbei um ein nicht ganz billiges Exemplar handelte. Steffen bemerkte seinen prüfenden Blick und nickte zustimmend.

 „Der war teuer. Meine Mutter ist besonders stolz auf den! Sie faselte etwas von ‚besonders lieblich‘ und ‚fruchtig süß‘. Es war echt schwer, an die Flasche ranzukommen, aber wenn ich was mache, dann richtig!“, prahlte Steffen, wobei er seine Hände in die schmalen Hüften stemmte und so breit grinste, dass seine Sommersprossen aus dem Gesicht zu fallen drohten.

„Fällt es nicht auf, wenn er weg ist?“, hakte George zögernd nach und fuhr sich mit seiner Hand durch seinen blonden Haarschopf.

„Nö, meine Alten sind heute eh nicht zu Hause. Ich schütte morgen einfach etwas von ‘ner angebrochenen Flasche hinzu und stecke den Korken wieder rein. Das passt!“, gab Steffen selbstsicher zurück. Gemeinsam gingen die beiden Dreizehnjährigen ihre Liste durch und verstauten behutsam die Flasche Rotwein, eine Handvoll Räucherstäbchen, sowie Kerzen und Streichhölzer in ihren Sportbeuteln zwischen ihren Masken. Zum Schluss fischte George den Weinkelch aus seinem Versteck im Schrank. Fast andächtig, wie zwei Mönche vor dem heiligen Krahl, betrachteten sie sich den Kelch. Sie nickten sich verschwörerisch zu, dann wickelten sie ihn in ein großes Handtuch ein und packten ihn zu den anderen Utensilien. Jetzt brauchten sie nur noch zu warten, bis Georges Familie sich endlich schlafen legte.

 

Der Vollmond stand hell am nächtlichen Sommerhimmel, als sich die beiden Jugendlichen aus dem Haus stahlen und mit beschwingten Schritten in den nahe gelegenen Wald sprangen. Ausgelassen stupsten sie sich gegenseitig in die Seite und veranstalteten ein Wettrennen durch den wuchtigen Kiefernwald, dessen betörender Duft die Luft geschwängert hatte und die Vorfreude auf das bevorstehende Ritual ins Unermessliche steigerte. Den Jugendlichen kam es fast vor, als würden sie schweben, so stark federte der mit Kiefern übersäte Waldboden ihre leichtfüßigen Schritte. Nahe der großen Senke verlangsamten sie ihren Gang und betraten andachtsvoll die von ihnen geweihte Stätte. Es war fast, als wären sie in den wenigen Minuten erwachsen geworden, so ernst und bedächtig waren nun ihre Gesichter. Kurz vor der großen Mulde setzten sie ihre selbstgebastelten Masken aus Gips auf und verbeugten sich tief. Erst jetzt betraten sie das ‚Götterloch‘, wie sie es vor fast einem Jahr benannt hatten, und schlitterten zu ihrer restlich maskierten Clique herab, die sich schon vollzählig unten versammelt hatte und ehrfürchtig vor dem selbsterbauten Sockel aus verschiedenen Holz- und Steinplatten im Kreis stand. Mit einem kurzen Gruß einer kreisenden Bewegung in Form einer Schleife vom Hals bis zur Hüfte gesellten sie sich zu den Anwesenden und Steffen gab ehrerbietig den Ritualkelch und die Flasche mit Wein frei. Die anderen maskierten Jungen verteilten die Kerzen und Räucherstäbchen, welche sie vorsorglich anzündeten. Dann trat ihr gewählter Ritualführer hervor, füllte den Kelch mit dem im Mondlicht schimmernden Wein und hob ihn zum Himmel empor, während er rief:

„Bacchus, du glücklichster Gott aller Götter! Sehe, wir preisen dich und bieten dir hingebungsvoll ein Opfer dar! Bitte erfülle unser Leben, deinen treuen Dienern, mit unzähligen Frauen, Wein und Ekstase! Dank sei dir, Bacchus!“

„Dank sei dir, Bacchus!“, erfüllten die zustimmenden und sich wiederholenden Rufe der Jungen hallend den Wald. Sie fingen an, wild im Takt ihrer Schreie durcheinander um den Sockel zu tänzeln, fortwährend ihre Bitte ausrufend, wie einen Klagegesang vor der Klagemauer. Von Weitem erinnerte das Spektakel an Vögel, die lauthals ihren misslungenen Balztanz unter den lächelnden Augen des Himmelzeltes vollführten.


Erschöpft packten George und Steffen ihre Sachen zusammen und warfen noch einmal einen letzten Blick zum vollen Weinkelch, der thronend auf dem etwas schiefen Sockel hinterblieb, wie die wartende Ehefrau auf ihren in den Krieg gezogenen Mann.

„Denkst du, Bacchus wird unsere Wünsche erfüllen?“

„Klar, warum sollte er nicht? Er hat bisher jedes Mal den Kelch bis zum nächsten Tag geleert und dieses Mal ist es ein ganz besonderer Wein! Du wirst sehen, bald schon haben du oder ich die ersten Freundinnen!“, gab Steffen bestimmt und voller Stolz George zur Antwort.

„Du hast recht! Ein Kelch leert sich ja nicht von allein!“

Vom Glück beschwingt beeilten sich die Jugendlichen, das Feld zu räumen, immerhin wollte ein Gott ja in Ruhe den guten Tropfen genießen!

 

Geduldig warteten die beiden Siebzehnjährigen ab, bis auch die letzten Jungen außer Sichtweite waren und nichts mehr von den schlurfenden Schritten auf dem trockenen Waldboden zu hören war. Als sie sich sicher waren, dass sich niemand mehr in ihrer Nähe aufhielt, traten sie mit amüsiert grinsenden Gesichtern aus ihrem Versteck heraus.

„Meinst du, es ist wirklich okay deinen kleinen Bruder so … hereinzulegen?“, fragte Tina etwas zwiespältig mit sich selbst, als sie die Picknickdecke auf den festgetrampelten Erdboden ausbreitete und den Inhalt des Picknickkorbs liebevoll darauf anrichtete.

Carsten beobachtete sie einen Moment lang, denn er liebte es, wenn einzelne schwarze Strähnen ihrerlangen Haare, verspielt in ihr zartes Gesicht fielen. Dann nahm er vorsichtig den vollen Kelch von dem kindlich errichteten Steinhaufen und setzte sich zu seiner Freundin nieder.

„Ach was. Es wäre doch viel grausamer, ihm seinen Glauben zu nehmen, findest du nicht? Abgesehen davon wäre es schade, den guten Wein zu verschwenden. Und gib es zu: ihr Ritual ist immer wieder einen Lacher wert!“

Grinsend goss er den Rotwein in zwei Gläser, während Tina vor sich hin kicherte. Gemeinsam stießen sie auf ihr Nachtpicknick an und als er ihr in ihre dunkelblauen Augen sah, konnte er nicht leugnen, dass, egal wie behämmert sein Bruder mit seinen kindischen Spielchen und Ritualen auch sein mochte, dieses Bacchus-Ritual tatsächlich funktionierte. Denn schließlich hatte er eine schöne Freundin, regelmäßig weißen oder roten, gegorenen Liebessaft und die Ekstase kam danach immer von allein.